Der 28. April 2016 wird mir lange im Gedächtnis bleiben. An diesem Tag fand im schönen Bern der CX-Day statt. Veranstalter dieses Events war die swisscom. Die swisscom entstand, ähnlich wie die deutsche Telekom, durch Teilprivatisierung nach der Deregulierung des Telekommunikationsmarktes im Jahr 1997. Im Oktober 1998 ging die swisscom AG an die Börse. Heute macht das Unternehmen über 11 Mrd. CHF Umsatz, beschäftigt über 21.000 Mitarbeitende (weltweit) und ist einer der größten Arbeitgeber in der Schweiz. Neben vielen anderen Standorten ist der Hauptsitz in Bern zu finden.
Willkommen in Bern
Zurück zu jenem Frühlingstag in die Stadt mit der Aareschlaufe. Wie schon die Kommunikation im Vorfeld angedeutet hatte, wurde es ein außergewöhnliches Event. In jeder Phase und in jedem Detail konnte ich spüren, dass dieses Unternehmen es verstanden hat, die so genannte Customer Journey perfekt zu gestalten. Die nächste Überraschung erlebte ich dann am Vorabend des Events bei einem Abendessen direkt an der Aare. Lockere Atmosphäre, Du-Kultur, viele Teilnehmer kannten sich aus vorherigen Events. Barhocker und Tapas bildeten den perfekten Rahmen um Plätze zu wechseln und mit den verschiedensten Teilnehmern ins Gespräch zu kommen. Sehr clever. Die meisten Gäste stammten aus der Schweiz, aber auch aus Österreich und Deutschland waren CX-Interessierte angereist. Die meisten sind bei großen, bekannten Unternehmen beschäftigt.
Der CX-Day am nächsten Tag war in jeder Form aussergewöhnlich und wäre definitiv einen eigenen Artikel wert. Inhalte, Formate, Engagement und Verhalten der Teilnehmer – alles anders, als ich das von Veranstaltungen kenne. Christina Taylor, damals Head of Human Centered Design, und ihr Team hatten perfekte Arbeit geleistet.
Post aus der Schweiz
Einige Monate später erhielt ich Post aus der Schweiz. Christina Taylor hatte während des CX-Day ihr Buch angekündigt. Nun lagen die 290 Seiten vor mir. Titel, Format und Gestaltung machten Lust darauf sofort mit der Lektüre zu beginnen. Und die Erwartung wurde nicht enttäuscht. In der Zwischenzeit habe ich das Buch mehrfach empfohlen und auch verschenkt. Eines dieser Geschenke führte vor einigen Wochen zu einer Erwähnung in einem Interview in der Fachzeitschrift „Markt & Technik“ und erinnerte mich daran, dass die Buchbesprechung lange überfällig ist.
Am Ende dieses Interviews skizziert der befragte Thomas Klein einen entscheidenden Punkt in Sachen Produktqualität und Kundenbegeisterung. So früh wie möglich den Kunden in die Entwicklung mit einbeziehen, denn es ist nicht seine Aufgabe zu wissen was er will. Gemeinsam werden die beste Ergebnisse erzielt. Dialog von Mensch zu Mensch ist in der Produktentwicklung auch 2017 immer noch das Wichtigste. Heute wird das meist Co-Creation genannt.
Oops! Was für ein tolles Buch
In „Oops! Innovation ist kein Zufall“ sind zwischen einem persönlichen In- und Outro der Autorin, neun spannende Kapitel eingebunden. Darunter „Die Innovationskultur als Überlebensstrategie“, „Sinne und Umgebung“ oder „Vom Unternehmer zum SinnGeber“. Christina Taylor beschreibt in ihrem Buch zunächst aus der Ich-Perspektive wie ihr Arbeitgeber swisscom sie im Jahr 2003 ins Silicon Valley schickte. Christina erzählt von den fünf Jahren die sie in Kalifornien verbrachte. Insgesamt besuchte sie über 300 Unternehmen und tauchte tief in das dortige Mindset ein. Wer das Buch „Silicon Valley“ von Christoph Keese kennt, wird verstehen, welche Eindrücke Christina gesammelt hat. Design Thinking, MVP (Minimum Viable Product), Done is better then perfect sind Buzzwords die heute auch bei uns weit verbreitet sind. Konsequent gelebt werden sie aber deutlich seltener und vor 14 Jahren hat in Europa kaum jemand darüber nachgedacht. Umso revolutionärer waren die Gedanken, die Christina 2008 mit zurück in die Schweiz brachte. Eines war ihr klar geworden: Will ein Unternehmen in diesem Wandel überleben, kann es sich nicht leisten Kundenwünsche in der 2. Reihe zu parken.
Den Kunden mit einbeziehen
Co-Creation und Human Centred Design heißen die Strategien der Zukunft. Alles muss sich auf die Menschen fokussieren, vor allem die Kunden, aber zuerst auf die eigenen Mitarbeitenden. „Was innen geschieht, ist außen spürbar“ sagte Hans C. Werner, Leiter Group Human Resources (Mitglied der Konzernleitung) der swisscom beim CX-Day im April 2016. Damit trifft Hans den Nagel auf den Kopf. Doch leider sind sich die meisten Unternehmen dessen nicht bewusst. Im Buch wird in diesem Zusammenhang auch sehr schön auf die Entwicklung vom Storytelling zum Storydoing hingewiesen. Es ist eine Sache gute und authentische Geschichte über das eigene Unternehmen, die Mitarbeitenden oder die Produkte zu erzählen. Etwas anderes ist es jedoch, was die Menschen außerhalb des Unternehmens über dieses berichten, welche Story der Markt selbst erzählt. Darauf kommt es an.
Denkhaltung mit Kundenfokus
Zurück zur Co-Creation. Der Kunde muss in die Entwicklung mit einbezogen werden. Sein Feedback ist ein Geschenk an die Produktmanager. Diese Erkenntnis prägten die weiteren Schritte. Christina zeigte den eigenen Topmanagern, Firmen die bereits Kundenzentriert aufgestellt waren, was später zur Folge hatte, dass 500 (!) Mitarbeiter aus der Schweiz ins Silicon Valley geschickt wurden um in Sachen Kundenzentrierung, Prototyping und Feedback geschult zu werden. Die Grundlage war gelegt um in der heimischen Schweiz die Konzern-Silos zu sprengen.
Die Telekommunikationsbranche ist keine einfache. Der Markt ist entwickelt, es geht um Nuancen in Preis und Leistung. Echte USPs sind in der Regel nicht vorhanden. Was macht also den Unterschied? Richtig, der Umgang mit den Kunden. Dies erkannte schon Richard Branson. Er eroberte nur Branchen und Märkte die hochgradig entwickelt waren, wie die Passagier-Luftfahrt, Telekommunikation, Bankenwesen, usw. Er ging in diese Branche mit einer Maxime: Den besten Kundenservice bieten. Und in der Tat, in einem entwickelten Markt suchen die Menschen nach Erlebnissen. Durch positive Erlebnisse entsteht emotionale Bindung. Und so fragte sich Christina und die Swisscom wie man nachhaltige Differenzierung erzeugt. Human Centered Design heißt ihr Lösungsansatz. Es handelt sich um eine Denkhaltung die sich mit dem Business verbinden muss und bei allen Entwicklungen Anwendungen finden sollte.
Design Skills und Praxistipps
In einem der Praxisteile werden sieben Design Skills aufgelistet, wobei Design im Buch nicht im grafischen Sinne, sondern im Design Thinking Kontext, verwendet wird.
- Perspektivwechsel
- Intensive Zusammenarbeit
- Umfassendes Kundenverständnis
- Geschichten entwickeln
- Ganzheitlich gestalten
- Lernen durch Ausprobieren
- Erlebnisse inszenieren
Zu jedem dieser sieben Skills, gibt es drei sehr hilfreiche Fragen, die schnell verstehen lassen worauf es ankommt und somit beim Transfer in die eigene Praxis unterstützen.
Es funktioniert – Praxisbeispiele
Apropos Praxis. Auch dies zeichnet das Buch aus, die vielen Praxisbeispiele. Diese werden in der Regel von Personen begleitet und erzählt, die aktiv mitgewirkt haben bzw. die Verantwortung für das jeweilige Projekt hatten. Dabei wird offen auch von Schwierigkeiten berichtet. Dies macht es für potenzielle Nachahmer echt und greifbar. Unter anderem wird die Geschichte von „Swisscom TV 2.0“ erzählt. Anhand kurzer, knackiger Beispiele wird beschrieben, wie sich das Produkt entwickelt hat. Die Story liest sich wie ein Paradebeispiel für Design Thinking. Bedürfnisse aller Stakeholder identifizieren, das dafür richtige Team individuell zusammenstellen, Herausforderungen erkennen und klar benennen, und natürlich immer wieder Kundentests – so früh wie möglich.
Nun wirst du möglicherweise fragen, wie sichergestellt wird, dass all diese Bemühungen und neuen Vorgehensweisen auch zum Erfolg führen. Nun, die Swisscom ist börsennotiert und ist ihren Aktionären detailliert Rechenschaft schuldig. Deshalb war von Anfang an klar, alles muss gemessen werden und die Ergebnisse sind die Grundlage zur Bewertung und weiteren Verbesserung. Ständiges Lernen, fortlaufende Weiterentwicklung ist die Maxime. Dazu zählt natürlich vor allem die Sichtweise der Kunde zu hinterfragen.
Weitere konkrete Anleitungen sind unter anderem zu der Prototyping-Methode Hear, Create, Deliver. Damit auch andere Unternehmen einfach in die Umsetzung kommen, hat die swisscom mit Looping ein Tool entwickelt, welches dabei unterstützt, schnell und einfach Feedback zu einem Prototypen einzuholen.
Customer Centricity Score
Die swisscom hatte viele Touchpoints und die Kundenerlebniskette nach eigener Ansicht optimiert. Nun galt es bei den Kunden zu hinterfragen, ob diese das bestätigen. Dadurch entstand in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern der so genannte Customer Centricity Score (CCS). Einer der Väter, Prof. Jan-Erik Baars, den ich während des CX-Days kennen lernen durfte, beschreibt diesen Messwert wie folgt: „Der Customer Centricity Score ist wie eine Anamnese beim Arzt – wir haben danach ein Gefühl, wo wir ansetzen können, um die Fitness des Unternehmens zu erhöhen.“ Der CCS wird zunächst durch eine Selbstbeurteilung des Unternehmens durch die Mitarbeitenden erhoben. Dann werden analog auch die Beurteilungen der Kunden ermittelt, der so genannte Net Promoter Score. Diese Werte werden in Verbindung gebracht und zeigen dann Handlungsbedarf auf. Am Ende wird der Customer Centricity Score mit anderen bekannten Kennzahlen in Verbindung gebracht um zu beweisen, dass die Denkhaltung, den Kunden immer in den Mittelpunkt des eigenen Denken und Handels zu stellen, auch zu Erfolg und Fortschritt führt.
Layout unterstützt Text, Räume unterstützen Entscheidungen
Noch ein Wort zur Optik. Das Buch ist sehr bunt, die einzelnen Kapitel sind durch verschiedene Pastelltöne des Papiers abgetrennt, viele Skizzen, Sketchnotes und andere grafische Elemente sind im handschriftlichen Stil und lockern ungemein auf. Fotografien aus dem Unternehmen sind dagegen in schwarz/weiß gehalten und symbolisieren somit eine Zurückhaltung in der Darstellung gegenüber der Botschaft und den wertvollen Inhalten. Großartig.
Im hinteren Teil des Werkes findet der Leser sehr viele interessante Fakten aus Studien etc. die belegen, dass die verborgten Methoden zu Erfolg führen. Auch hier ist alles wunderbar grafisch und locker aufbereitet, wesentliche Werte springen sofort ins Auge.
Fürs Auge ungewöhnlich sind auch viele Räume, bei der Swisscom in Bern. Man ist zu der Überzeugung gekommen, das die Umgebung Prozesse positiv beeinflusst. Also werden Räume explizit für verschiedene Ziele gestaltet. Auch diese Beispiele sind im Buch beschrieben und bebildert. Hochspannend, wie ich meine. Ich hatte zuvor nie darüber nachgedacht, dass Raumgestaltung Denkprozesse unterstützen kann.
Anleitung zur Kundenbegeisterung
Dieses Buch ist in jeder Beziehung außergewöhnlich. Titel, Layout, Kapitelstruktur, Inhalte und die offenen Einblicke in die Swisscom – alles hebt sich wohltuend von sonst häufig eher spröden Fachbüchern ab. Der rote Faden ist klar erkennbar: Der Mensch steht im Zentrum. Das beste Kundenerlebnis ist immer das höchste Ziel.
OH-Fazit
„Oops! Innovation ist kein Zufall“ sollte in jedem Unternehmen zur Standardlektüre zählen.
Unser Bibliothekar meint
Dieses Buch ist grandios. Inhaltlich klar, hilfreich, leicht verständlich, praxisnah und somit einfach wertvoll. Die Struktur ist logisch aufeinander aufbauend, was aber nach der ersten Lektüre nicht daran hindert, immer wieder in den Seiten zu schmökern und das Wissen aufzufrischen. Die visuelle Umsetzung ist ebenfalls sehr gelungen. Die Abschnitte sind durch Pastellfarben der Seiten klar zu unterscheiden und auf rund der Hälfte aller Seiten befinden sich Skizzen oder Bilder. Ich empfehle das Buch sehr gerne und hoffe auf eine Fortsetzung, in der die Autorin weitere gewonnenen Erfahrungen aus der Praxis teilt.
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