Vorwort – You’ll never walk alone
Dieser Artikel erscheint am 15. April 2019 anlässlich des 30. Jahrestag der Hillsborough-Katastrophe. Das beschriebene Lied „You’ll never walk alone“ ist zwar viel älter als 30 Jahre, zeigt aber rund um die Ereignisse des 15. April 1989 was eine Wertegemeinschaft bedeutet.
Why it’s more than a number that appears on our shirt
Der aktuelle Kapitän des Liverpool FC, Jordan Henderson, beschrieb gestern, was es bedeutet Teil dieser Wertegemeinschaft zu sein:
„Like most of the first-team players I wasn’t born when 96 supporters of this club – men, women and children – attended a football match and never came home. The passage of time doesn’t reduce the importance or significance, though. Every player who is privileged to represent this club knows they have a responsibility to learn about the impact of what happened at Hillsborough on April 15, 1989.
But I think it’s important that the entire first-team squad, myself included, remind ourselves each season and with each year that passes why this tragedy and the impact of it will always be a part of Liverpool Football Club. Why it’s more than a number that appears on our shirt.“
Die Geschichte des Songs erzähle ich anhand der Dokumentation „You’ll never walk alone – Die Geschichte eines Songs“ von André Schäfer, ergänzt durch eigene Recherchen und Interpretationen von Ergebnissen und deren Bedeutung.
2:38 Magie
Es ist der 25. Mai 2005 21:30 Uhr.
„Walk on, walk on, with hope in your heart“
In Istanbul singen 40.000 Menschen, überwiegen rot gekleidet, den Song „You’ll never walk alone“. Zu feiern haben sie nichts, denn zur Halbzeit liegt ihr Team, der Liverpool FC, mit 0:3 gegen den Favoriten AC Mailand zurück. Es ist nicht irgendein Spiel, in dem die Ansammlung von Superstars in weißen Trikots souverän führt, es ist das Champions League Finale. Die Fans der „Reds“ haben an diesem Abend im Atatürk Olimpiyat das richtige Gespür und signalisieren dem Team, dass es noch nicht vorbei ist.
„Walk on, walk on, through a storm, hold your head up high“
Der Rest ist Fußballgeschichte und die Liverpooler Spieler erzählen später, dass die Gesänge in der Halbzeit ihnen den Mut gegeben haben, nochmal alles zu versuchen. Nach 60 Spielminuten stand es 3:3 und es folgten weitere 60 Minuten harter Kampf, bis das später siegreiche Elfmeterschießen erreicht war. Natürlich wurde nach dem Spiel erneut gesungen: You’ll never walk alone.
Was ist das für ein Song, der solche Kraft entfalten kann? Wo kommt er her, wer hat ihn geschrieben und wie kam er auf die Tribünen an der Anfield Road? Die Dokumentation „You’ll never walk alone“ geht mit uns auf Spurensuche. In 100 Minuten wird aufgezeigt, wie die 2:38 Minuten vom Broadway über die britischen Charts zur Hymne von Liverpool wurden.
Die Dokumentation
Der deutsche Schauspieler Joachim Król führt durch die Dokumentation von André Schäfer, die sich zu Beginn eher schwerfällig entfaltet. Zunächst nimmt Król den Zuschauer mit nach Dortmund, Wien, Budapest und New York. Was dies mit dem titelgebenden Lied und Liverpool zu tun hat, bleibt noch im Verborgenen. Der BVB-Fan Król folgt der Geschichte des Revierclubs und des Schriftsteller Ferenc Molnár ins Jahr 1909. Damals wurde am 7. Dezember das Stück „Liliom“ im Vígszínház, dem Lustspieltheater in Budapest, uraufgeführt. Nur 12 Tage später, wird am Borsigplatz den Verein Borussia Dortmund gegründet. Auf unserer Reise in die Vergangenheit bleiben wir zunächst Molnár und dem Theaterstück „Liliom“ auf der Spur. Ein Enkel des berühmten Dramatikers berichtet im New York Café in Budapest Joachim Król von seinem Großvater als Mensch und Autor. Er erzählt von den Anfängen in der ungarischen Hauptstadt und über die Flucht vor den Nazis in die USA. Bisher noch kein Wort über Fußball, aber wir sind ja auch noch in der ersten Halbzeit des Films.
Die Geburtsstunde des Original
Nach ca. 20 Minuten nimmt die Doku langsam Fahrt auf, wie eine Fußballmannschaft nach dem ersten Abtasten gegen einen schweren Gegner. Wir erfahren, dass die berühmten Musical-Genies Richard Rodgers und Oscar Hammerstein 1945 die Rechte an „Liliom“ von Ferenc Molnár erwarben. Bereits im April des Jahres wurde das Musical „Carousel“ am Broadway uraufgeführt. Rodgers hatte für das Musical die Melodie zu „You’ll neuer walk alone“ komponiert und Oscar Hammerstein den heute so berühmten Text geschrieben. Der Song wird im Musical zwei mal gesungen. Zunächst beim Tod von Hauptfigur Billy und später noch einmal im Finale, welches im Musical hoffnungsvoller als im Original ist. Es hat 30 Minuten gedauert, bis wir das Meisterwerk zum ersten Mal hören.
Nun kennen wir die Entstehungsgeschichte des Liedes und auch die ursprüngliche Bedeutung des Textes von Hammerstein. Doch wie kam der Song jetzt vom Broadway nach Liverpool? Das haben wir einem regnerischen Tag sowie Stan Laurel und Oliver Hardy zu verdanken.
The Voice
Doch bleiben wir zunächst noch etwas in den Vereinigten Staaten und dem Jahr 1945. Bereits kurz nach der Uraufführung des Musicals und somit auch von „You’ll neuer walk alone“, wurde der Song zum ersten Mal als Single aufgenommen. Interpret war kein geringerer als Frank Sinatra. „The Voice“ war es dann auch, der 11 Jahre später in der Verfilmung „Karussell“ die Hauptrolle hätte übernehmen sollen. Als er jedoch erfuhr, dass der Film nicht nur im damals üblichen 35-mm-Verfahren aufgenommen werden sollte, sondern auch im neuen Cinemascope 55-mm-Verfahren, lehnte er ab. Man informierte ihn in diesem Zusammenhang darüber, dass alles Szenen zweimal aufgenommen werden müssen. Diese Mehrarbeit wollte Sinatra nicht übernehmen. Die Rolle des Billy Biglow übernahm Gordon McRea.
Wir verweilen einen weiteren Moment in New York und erleben wie Król Jacques d’Amboise besucht. Dieser war damals Tänzer in Karussell und erinnert sich für uns Zuschauer an die Choreographie zu dem berühmtem Lied. Ein erster sehr emotionaler Moment im Film, die Betriebstemperatur steigt. Der Film mit diesem Tanz führt uns nach der Länge einer Halbzeit erstmals ins regnerische England und einen Kinosaal. In diesem saß der Liverpooler Musiker Gerry Marsden und sah sich Laurel and Hardy an. Da das Wetter so schlecht war, blieb er nach der Vorstellung sitzen und genoß auch die nächste Vorstellung des lustigen Duos. Irgendwann schlief Marsden dann auf seinem Sitz im Kinosaal ein und erwachte erst während des nächsten Films. In diesem wurde gerade ein Lied gesungen, welches seine Aufmerksamkeit weckte.
Der Mythos nimmt seinen Lauf
Gerry war begeistert und wollte dieses Lied in das Repertoire seiner Band Gerry & The Pacemakers aufnehmen. Seine Kollegen waren nicht sonderlich begeistert, hatten sie sich doch gerade erst einen Namen als Rockband gemacht. Das Lied kam jedoch bei Live-Auftritten beim Publikum gut an und wurde fortan immer zum Schluss eines Konzerts gespielt. Im Frühjahr 1963 hatten Gerry & The Pacemakers zwei Nummer Eins Hits in England und galten in der Liverpooler Musikszene als Nummer 2 hinter den Beatles. Mit Paul, John, George und Ringo teilten sie sich nicht nur den Manager Brian Epstein, sondern auch den „fünften Beatle“ George Martin, einer der bedeutensten britischen Musikproduzenten. Sowohl Epstein, als auch Martin, waren nicht gerade begeistert, als Gerry Marsden mit dem Vorschlag kam, „You’ll neuer walk alone“ als dritte Single zu veröffentlichen. Gerry bliebt aber hartnäckig und George Martin produzierte die Coverversion. Mardsen hatte wie schon im Kinosaal das richtige Gespür. Auch diese Single erreichte im Oktober 1963 Platz 1 der britischen Charts.
All dies erzählt Gerry Marsden in einem persönlichen Gespräch mit Joachim Król, während sich immer wieder Einspieler aus der damaligen Zeit mit Gerry in seinem Sessel abwechseln. Auch davor sehen wir Król immer wieder in Gesprächen und an Schauplätzen die uns mit der Geschichte des Songs verbinden. Er spricht unter anderem mit den BVB-Legenden Lars Ricken und Norbert Dickel (Ex-Spieler und Stadionsprecher). Auch in Dortmund wird das Lied im Stadion gesungen und Dickel erinnert unter anderem an die bewegende Atmosphäre im Stadion, als ein Fan während eines Ligaspiels gegen Mainz 05 verstarb. Überhaupt spielt Dortmund, neben Liverpool, eine Hauptrolle in der Dokumentation, was sicher auch Evonik geschuldet ist. Der Hauptsponsor des Revierclubs ist auch einer der Geldgeber für die Dokumentation. So lassen sich dann auch die Wahl von Joachim Król und das gelb-schwarze Cover (Filmplakat) erklären.
Schwarz-gelb im April 2016
Die Story vom „You’ll neuer walk alone“-Gesang auf der Südtribüne und The Kop fügt sich dann während der Begegnung der beiden Clubs in der Europa League im April 2016 zusammen. Später zeichnet die FIFA die Anhänger beider Teams mit dem „FIFA-Fan-Award“ aus, für deren gemeinsames Verhalten während des Rückspiels an der Anfield Road. Beide Fanlager sangen am Vorabend des Jahrestages stimmungsvoll „You’ll neuer walk alone“ zu Ehren der 96 Todesopfer der Hillsborough-Tragödie.
Im Interview mit Joachim Król erinnert sich im Rahmen der Dokumentation Jürgen Klopp an diesen schon legendären Abend, der in letzter Sekunde durch Dejan Lovren gekrönt wurde. Klopp ist sich sicher, dass die Stimmung während der Partie, insbesondere während der Aufholjagd nach dem 1:3 im Stadion ganz besonders war und einen ganz entscheidenen Anteil dazu beitrug, dass noch heute über das Spiel gesprochen wird. Der Mythos Anfield wurde durch dieses Spiel erneut aufgeladen und „You’ll never walk alone“ ist ganz eng mit diesem Mythos verbunden.
Die Hosen und The Kop
Wir sehen Joachim Król während der 100 Minuten in Dortmund und in Liverpool im Stadion, sowie vor den Stadien mit der obligatorischen Stadion-Wurst. An der Anfield Road genießt er diese mit Campino, dem Frontmann der Band Die Toten Hosen. Campino wuchs zweisprachig auf, da seine Mutter Engländerin war und ist bekennender Liverpool-Fan. Als Musiker betrachtet er den Mythos des Songs nochmals aus einer anderen Perspektive. Insbesondere weil „die Hosen“ den Song ebenfalls in ihr Konzert-Line-up aufgenommen haben und das Lied immer zum Schluss eines Liveauftritte zum Besten geben – wenn auch in einer deutlich rockigeren Version.
Die vermeidliche Originalversion, das Cover von Gerry & The Pacemakers, kletterte 1963 auf Platz 1 der Charts. Zu diesem Zeitpunkt war es an der Anfield Road seit neuestem möglich, Musik via Plattenspieler auf die Ränge zu transportieren. Da sich bereits in den 50er Jahren in England eine echte Mitsing-Tradition entwickelte, grölten die Fans alle Lieder mit. Der damalige Stadionsprecher spielte immer die aktuellen Top10-Hits. Doch auch als „You’ll neuer walk alone“ aus den Top10 verschwand, wollte The Kop (die Stehplatztribüne) den Song weiterhin hören und stimmte ihn von nun auch immer wieder selbst an. So entwickelte sich die Tradition.
15. April 1989 – Hillsborough
Im Jahr 1989 gab die Hillsborough-Tragödie dem Mythos weitere Nahrung. Es ist der 15. April 1989. Im Hillsborough Stadium in Sheffield ereignete sich während des Halbfinalspiels um den FA Cup zwischen dem FC Liverpool und Nottingham Forest durch viel zu viele Menschen in den Blöcken eine Katastrophe. An diesem schicksalshaften Tag starben 96 Menschen, 766 wurden verletzt. Ganz Liverpool gedenkt seither jedes Jahr mit großen Emotionen diesen Menschen, die nur ein Fußballspiel sehen wollten und dabei ihr Leben ließen. „You’ll neuer walk alone“ wurde auch für die Bewältigung der Tragödie zu einem wichtigen Bestandteil. Dies veranlasste den Verein den Titel des Songs in das Vereinswappen zu übernehmen.

Anlässlich der Katastrophe wurde auch ein anderer Hit von Gerry & The Pacemakers, „Ferry cross the Mersey„, mit weiteren Liverpooler Musikern, darunter auch Paul McCartney, als Benefizaktion neu aufgenommen. Doku-Macher André Schäfer zeigt uns auch, wie die Hinterbliebenen vor einem Gerichtssaal „You’ll neuer walk alone“ anstimmen, als sie nach 27 Jahren endlich vom Gericht bestätigt bekommen, das die Fans unschuldig an der Katastrophe waren. Tränen machen sich auf den Weg.
Tränen hat auch unser Guide Joachim Król in den Augen, als er das Lied live vom Balthasar-Neumann Chor & -Ensemble vorgespielt bekommt, mit dessen Leiter er zuvor ausführlich über den Song spricht. Längst hat der Film den Zuschauer in seinen Bann gezogen und es bleibt sehr emotional.
Die Hymne die berührt
In der Dokumentation kommt auch immer wieder George Sephton, der Stadionsprecher des Liverpool FC zu Wort. Unter anderem erzählt er die Anekdote, dass eines Tages die CD hängen blieb, während das berühmte Lied gespielt wurde. Die Fans dachten, er hätte die Musik mit Absicht angehalten und sangen noch sieben Minuten lang weiter. Seit dem hat auch dies Tradition und George hält den Song nun immer an und The Kop singt ihn zu Ende, oft auch darüber hinaus.
Der Text von „You’ll neuer walk alone“ hat nichts mit Fußball zu tun, und wird deshalb nicht nur im Stadion, sondern auch in vielen anderen vielen Lebenssituation, unter anderem auch häufig auf Beerdigungen gesungen. Zuletzt bei der Trauerfeier für Aretha Franklin, die zu Lebzeiten selbst dieses Lied im Repertoire hatte.
„Walk on, walk on“.
Es ist der 28. Mai 2018. In Kiew schallt wieder aus zigtausend Kehlen „You’ll never walk alone“. Erneut spielt der Liverpool FC ein Champions League Finale. Das Spiel hat einen merkwürdigen Verlauf genommen und kurz vor Schluss ist klar, dass der Gegner den begehrten Pokal in den ukrainischen Nachthimmel stemmen wird. Doch die Liverpool Fans signalisieren auch an diesem Abend ihrer Mannschaft durch ihren Gesang, dass sie auch in dieser Situation nicht alleine ist.
Am nächsten Tag, Flug VY4030 von Kiew nach Liverpool. Der spanische (!) Pilot lässt in 10.000 Meter Höhe über das Intercomm-System das berühmte Lied laufen. Das ganze Flugzeug singt.
Dieses Lied verbindet die Menschen, spendet Kraft und ist häufig fester Bestandteil eines geheiligten Rituals – wie an der Anfield Road. Während des Songs und darüber hinaus bilden sie eine Wertegemeinschaft. 2:38 Minuten Magie in C-Dur. Ein Lied für die Ewigkeit.
Liedtext:
When you walk through a storm
Hold your head up high
And don’t be afraid of the dark
At the end of a storm
There’s a golden sky
And the sweet silver song of a lark
Walk on through the wind
Walk on through the rain
Though your dreams be tossed and blown
Walk on, walk on
With hope in your heart
And you’ll never walk alone
You’ll never walk alone
Walk on, walk on
With hope in your heart
And you’ll never walk alone
You’ll never walk alone
PS: Künstler die „You’ll never walk alone“ gesungen bzw. in ihrem Repertoire haben/hatten: Frank Sinatra, Die Toten Hosen, Lois Armstrong, Dionne Warwick, Shirley Bassey, Chris de Burg, Beyoncé, Doris Day, Roy Orbison, Elvis Presley, Judy Garland, Barbara Streisand, Ray Charles, Plácido Domingo, Tom Jones, Nina Simone, Jerry Lewis, The BossHoss, Aretha Franklin, Johnny Cash, Pink Floyd.
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